Frau Professorin Kerkmann, was ist das Besondere an Seh-Lotsenden in Sozialpädiatrischen Zentren?
Verena Kerkmann: Unser Auftrag ist es herauszufinden, ob bei Kindern und Jugendlichen eine bislang unentdeckte Sehbeeinträchtigung vorliegt, was die Familien im Alltag bewegt und was sie sich für ihr Kind wünschen. Auch die Kinder selbst kommen zu Wort – entweder indem sie selbst sprechen oder indirekt, indem wir ihr Verhalten beobachten oder die Familien befragen. Wir entwickeln gemeinsam mit den Kindern und ihren Angehörigen individuelle Hilfestellungen, die ihren Alltag erleichtern. Das kann ein einfaches Hilfsmittel sein wie eine Brille, welche die Kinder in der Augenarztpraxis verschrieben bekommen. Haben die Kinder mehr Unterstützungsbedarf, dann können auch Hilfsmittel wie vergrößernde und elektronische Sehhilfen sowie Tablets mit Sprachausgabe sinnvoll sein.
Wir tragen dazu bei, eine Versorgungslücke in Deutschland zu schließen, bedienen eine ganz neue Schnittstelle im Übergang von Gesundheit und Bildung und ergänzen so das bestehende Versorgungssystem. Denn selbst wenn in der Augenarztpraxis mögliche Ursachen identifiziert werden, fehlt häufig die Zeit, sich auch die Herausforderungen beim Sehen im Alltag anzuschauen. Wie verhält sich das Kind bei der Bewältigung visueller Aufgaben? Wann kommt es mit seinen Sehbedingungen an Grenzen und unter welchen Umständen kommt es besser zurecht? Dazu braucht es Zeit, Gespräche mit Bezugspersonen und Erfahrung in Beobachtung. Mit dem entsprechenden Hintergrundwissen können die Zeichen einer Beeinträchtigung erkannt werden. Liegt eine Sehbeeinträchtigung vor, die sich auf das Lesevermögen eines Kindes auswirkt, dann können wir durch Sehtafeln und aufbereitete Lesetexte beispielsweise herausfinden, ob das Kind mit bestimmten Eigenschaften von Texten Schwierigkeiten hat. Manche können problemlos lesen, wenn die Buchstaben einen großen Abstand haben. Es gibt auch Kinder, die wirken sehend, aber können viel besser über das Hören oder das Tasten lernen.
Ihre Arbeit wird inzwischen von drei Stiftungen im Stifterverband unterstützt – neben der Waldtraut und Sieglinde Hildebrandt-Stiftung auch von der Ilse Palm-Stiftung und der Brunenbusch-Stein-Stiftung. Was kann durch die Förderungen erreicht werden?
Verena Kerkmann: Ich bin an der TU Dortmund im Team von Professorin Renate Walthes bereits im Nachwuchsforschungsprogramm als Doktorandin von der Waldtraut und Sieglinde Hildebrandt-Stiftung gefördert worden. Dort habe ich eine anspruchsvolle, interprofessionelle Ausbildung erhalten.
Das Wissen und die Skills, die wir als Kooperation der Hochschule für Gesundheit und der Klinikum Dortmund gGmbH dann über die Jahre weiterentwickelt haben, werden in der Versorgungsrealität eines Sozialpädiatrischen Zentrums dringend benötigt. Das wird durch den Erfolg, den die aktuellen Initiativen für Forschung und Transfer abbilden und die Resonanz aus den Sozialpädiatrischen Zentren im Netzwerk gespiegelt. Die Bedeutung des Themas zeigt sich auch darin, dass die Waldtraut und Sieglinde Hildebrandt-Stiftung die Stiftungsprofessur fördert, wir inzwischen vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert werden und der Dachverband der 164 Sozialpädiatrischen Zentren, die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), Konsortialpartner ist.
Über die Förderung der Waldtraut und Sieglinde Hildebrandt-Stiftung wird es der Doktorandin Juliane Rips auch ermöglicht, ihre Studie zur Evaluation der Seh-Lotsen-Sprechstunde umzusetzen, ein wesentlicher Bestandteil für die bundesweite Skalierung des Angebots nach dem Dortmunder Modell.
Die Ilse Palm-Stiftung hat es anlässlich des Projekts ermöglicht, dass wir zwölf Sozialpädiatrische Zentren mit Materialien ausstatten konnten. Die Pilot-Seh-Lotsenden werden also über die Mittel des BMBF weitergebildet und verfügen dank der Palm-Stiftung über die Materialien, um ihre Pilot-Seh-Lotsen-Sprechstunden in den Heimat-SPZ einzurichten. Daran hat sich auch die Firma Piratoplast/Dr. Ausbüttel angeschlossen und angeboten, die Umverpackung der wertvollen Materialien zu stellen. Sie haben mithilfe der Dortmunder Werkstatt über den Teichen GmbH und mit viel Liebe zum Detail Werkzeugkoffer so aufbereitet, dass die Materialien der Palm-Stiftung zur mobilen Sprechstunden geworden sind. Das kann im SPZ sehr praktisch und ressourcensparend sein, weil Räume so multifunktional nutzbar werden und die Seh-Lotsenden sogar Beratungen in anderen Abteilungen einer Kinderklinik anbieten können.
Die Brunenbusch-Stein-Stiftung unterstützt weiterhin unsere registerbasierte Forschung in Dortmund. Die Doktorandin Maria-Luisa Menzel Andrino wird im Rahmen ihrer Dissertation den Aufbau des Registers für (bislang unentdeckte), sehbedingte Leseschwierigkeiten (ReseL) an der Klinikum Dortmund gGmbH begleiten. Ihre Arbeit wird auch dazu beitragen, dass wir das Register für einen zukünftigen, multizentrischen Betrieb in Kooperation mit der DGSPJ bundesweit vorbereiten können.