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Sind Stifter die glücklicheren Menschen?

28.11.2022

Der "Psychologe der Nation", Stephan Grünewald, spricht im Interview über Engagement und Selbstwirksamkeit, die Entsolidarisierung in der Permakrise und wie sich ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft verhindern lässt.

Herr Grünewald, der Winter kommt. Mit Corona und Energiekrise heißt das erstmal nichts Gutes für uns. Da kann uns die Fußball-WM doch jetzt wunderbar ablenken. Aber auch das ist für viele auch nur ein Vergnügen mit Reue. Muss ich mich schämen, wenn ich Fußball gucke?
Sie fragen ja einen Psychologen: Für uns entwickelt sich Scham aus einem Gefühl, welches Bild die Menschen von sich selbst haben wollen. Bei der Fußball-WM in Katar haben nun sicher einige das Gefühl, dass sie das eigentlich nicht gucken dürften, und sie tun es nur mit einer gewissen Verschämtheit. Tatsächlich läuft die WM diesmal unter ganz anderen Vorzeichen. Gesellschaftlich wird sie nicht so verbindend sein wie sonst. Weil es kein Public Viewing gibt, weil es kalt ist und Corona immer noch präsent, sind aber viele Menschen sicher zumindest zuhause froh, dass es bei all der unerträglichen Problemlast, die sie im Moment erdrückt, mit dem Fußball wenigstens ein heimisches Ventil gibt.
Die meisten beschreiten hier wohl einen Mittelweg, bei dem man sich zwar ärgert und hofft, dass es nicht nochmal so eine WM wie die in Katar geben wird, man aber trotzdem die Spiele guckt und sich je nach Turnierverlauf hoffentlich ein paar triste Winterabende versüßen lässt. Es ist immer noch angenehmer, mit der Mannschaft zu zittern als vor Kälte, weil man die Wohnung nicht genug heizen kann.

Gesellschaftlich hätten wir ein verbindendes Erlebnis gut gebrauchen können. Aus der Mehrfachkrise ist inzwischen eine Permakrise geworden. Sie beschreiben, dass sich die Menschen immer mehr zurückziehen, der soziale Zusammenhalt schwindet, manche sehen die Demokratie in Gefahr. Welches Gefühl muss die Politik den Menschen zurückgeben, um diesen Prozess zu stoppen?
Es gibt kein Patentrezept, weil all diese Krisen eine ganz unterschiedliche Logik haben. Die Energiekrise und die Inflation werden als Situation erlebt, die mit großer Unbestimmtheit verbunden ist. Die Menschen haben keine klare Vorstellung, was auf sie zukommt, ob sie am Jahresende die Rechnungen begleichen können. Sie haben auch keine Vorstellung, ob das, was da an Maßnahmenpaketen verabschiedet worden ist, wirklich durch den Winter hilft. Das heißt, von der Politik wünscht man sich ein Höchstmaß an Bestimmtheit und Klarheit.
Die Unbestimmtheit ist dagegen ein Nährboden für eine gesteigerte Selbstbezüglichkeit. Die Menschen sehen sich einer Vielzahl von Krisen gegenüber, haben keine Vorstellung, wie man sie bewältigen soll, und haben auch nicht das Gefühl, dass die Politik ein Rezept hat, um mit Krieg, Klimawandel und Energiekrise richtig umzugehen. Es entsteht ein Machbarkeitsdilemma, das dazu führt, dass die Solidarität schwindet und man Sündenböcke sucht. Die Energiekrise ist ja von Politikern durch ihre Entscheidungen mitbegründet. Also kann ich denen die Verantwortung zuschieben. Das geht natürlich nur, wenn man die Ambivalenzen und Zwickmühlen, in denen auch Politiker stecken, ausblendet.

Foto: Marina Weigl
Der Psychologe Stephan Grünewald, Mitbegründer des Meinungsforschungsinstituts rheingold

 
Wie lässt sich die Polarisierung in der Gesellschaft stoppen?
Es gibt kein einfaches Rezept dafür. Ein Großteil der Bürger steht immer noch hinter den Parteien der politischen Mitte. Dennoch haben wir das Problem, dass viele Menschen nicht nur vor dem Machbarkeitsdilemma stehen, sondern sich zudem auch nicht mehr wertgeschätzt fühlen. Das Machbarkeitsdilemma versperrt den Blick in die Zukunft, da es keine Vision mehr von einer besseren Zeit gibt, die da kommen wird. Folglich wird die Vergangenheit und damit auch der dazugehörige Lebensstil verklärt. Wozu sich ändern, wenn es trotzdem keine Aussicht auf Besserung gibt? Gerade dieser altbewährte Lebensstil wird dann aber diskreditiert, weil viele Menschen eben noch Fleisch essen, Dieselautos fahren, die Fußball-WM gucken, nicht gendern und so fort. Es bleibt also aus Sicht dieser Menschen nur noch Verzicht. Das ist ein Nährboden für eine Trotzhaltung, die vielleicht im ersten Atemzug der Politik die erlittene Kränkung zurückgeben will und erst im zweiten Atemzug wirklich etwas zum Beispiel mit den Inhalten der AfD zu tun hat. Es ist daher ganz wichtig, dass wir ein Klima schaffen, in dem Menschen sich nicht diskreditiert fühlen. 
Früher hat der Mainstream die fortschrittlichen Tendenzen der Jugend bekämpft. Heute sind viele Eltern bereit, von den jungen Menschen zu lernen. Wer den Status quo verteidigen will, ist daher nicht mehr wie früher Teil des Mainstreams und sieht in Parteien wie der AfD oft das einzige Sprachrohr, das die Rolle rückwärts in die alte Zeit verspricht. 
Grundsätzlich bin ich mit dem Bundespräsidenten einig, dass wir ein besseres Gemeinschaftsgefühl über ein soziales Pflichtjahr erreichen könnten. Den Jugendlichen sollte ein Perspektivwechsel ermöglicht werden. Ein soziales Pflichtjahr könnte ein Begegnungsraum sein, in dem Menschen aus unterschiedlichen Milieus zusammenkommen.

Sie haben angeregt, man solle Verzicht, das Sparen allgemein, gerade in diesem Winter mit Bedeutung aufladen, damit es sinnstiftend wird. Wie kann Politik das vermitteln?
Die Politik kann an Solidarität erinnern. Das funktioniert dann besonders gut, wenn man das Thema, wie im Fußball, in eine positive Wettbewerbslogik bringt. Zum Beispiel könnten wir mal schauen, welches Bundesland, welche Region am meisten spart. Das Problem ist derzeit, dass wir sparen, aber trotzdem mehr Geld ausgeben. Es fehlt ein Mehrwert, ein Erfolgserlebnis.
Das Sparen im besten Sinne hängt mit Selbstwirksamkeit zusammen. Gegen Corona konnten man nur wenig selbst tun. Aber hier kann mein starker Arm am Thermostat drehen, kann etwas bewegen. Die Politik muss aber diesen starken Arm auch ansprechen und nicht die Menschen mit Tipps zur Waschlappennutzung bevormunden. Ich will in der Werbung keinen Kinderarm am Thermostat sehen und mich durch den Waschlappen in machtlose Kindertage zurückversetzt fühlen. 
Es gibt keine Alternative zum Sparen, auch wegen des Klimawandels, also ist es umso wichtiger, den Menschen zu signalisieren: Wir glauben an Dich, an Deine Stärke, an die Gemeinschaft. Es braucht eine Ansprache an erwachsene Menschen, die bereit sind, etwas zu tun.

Stichwort Selbstwirksamkeit: Ist das immer der beste Weg durch eine Krise?
Wir haben darin ja schon Übung durch die Corona-Zeit. Selbstwirksamkeit holt uns raus aus der Ohnmacht. Selbst wenn ich in der großen Welt ein Machbarkeitsdilemma sehe, kann ich meinen Garten pflegen, puzzeln, was auch immer, um nicht in fatalistische Untätigkeit zu verfallen. Das hat sich auch bei der Flutkatastrophe im Ahrtal gezeigt. Da sind viele Menschen hingefahren und haben mit angepackt. Es war klar, was jeder tun konnte, es gab eine sinnstiftende Gemeinschaft.
Bei den Geflüchteten aus der Ukraine hat die Hilfe, das Anpacken auch geholfen, aus der ersten Schockstarre nach Beginn des Krieges herauszukommen. Den Menschen direkt zu helfen oder zu spenden, war zudem eine Art Ablasshandel, um das Schicksal gütig zu stimmen, so dass der Krieg nur nicht hierher kommt. Inzwischen hat sich einiges verändert. Jetzt merken die Menschen, dass sie selbst genug Probleme haben, dass sie im Kalten sitzen und es finanziell eng wird. Das ist natürlich der Killer der Solidarität und fördert eher eine Einzelkämpfermentalität. Hinzu kommt, dass wir uns im Winter ohnehin eher in unser Schneckenhaus zurückziehen.

Aber es gibt ja Menschen, die sich immer engagieren, sich in die Zivilgesellschaft einbringen, Stiftungen betreiben, Gutes tun. Sind das die glücklicheren Menschen?
Wenn die Arbeit in einer Stiftung mit Sinnstiftung verknüpft ist, ist das sicher der Fall. Wir merken das an unseren Untersuchungen über Kapitalanleger. Wenn die Anleger nicht nur das Gefühl haben, dass ihr Vermögen wächst, sondern sie auch noch je nach Investition realisieren, dass ihr Kapital etwas Gutes bewirken kann, kann man eine ganz andere Art von Stolz feststellen. Das ist auch eine Art von Selbstwirksamkeit, durch seine Geldanlage Gutes zu tun. Wann immer eine Arbeit mit Sinnstiftung zu tun hat, ist sie mit Sicherheit ein wesentlicher Beitrag zu einem glücklicheren Leben.

Weihnachten und Neujahr stehen vor der Tür, damit auch die Zeit der großen Fernsehansprachen. Was sollten Bundeskanzler und Bundespräsident den Menschen mit auf den Weg geben?
Die Zeiten, in denen man die Botschaften in einfache Slogans packen kann, sind vorbei. Es kommt darauf an, die Menschen mitzunehmen, in dem man Schwierigkeiten anspricht, Ambivalenzen aufzeigt, verdeutlicht, dass es keine perfekten Entscheidungen gibt und dennoch Entschiedenheit vermittelt.

ZUR PERSON

Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe und Mitbegründer des renommierten rheingold-Instituts in Köln. Der "Psychologe der Nation" (FAZ) führt dort mit seinen Kollegen jedes Jahr mehr als 5.000 Tiefeninterviews zu aktuellen Fragen aus Markt, Medien und Gesellschaft durch. Grünewald wurde mit den Büchern "Deutschland auf der Couch" (2006), "Die erschöpfte Gesellschaft" (2013) sowie "Wie tickt Deutschland" (2019) zum Bestsellerautor.