Ein Tochterunternehmen des Stifterverbandes Alle Seiten

Ein Tochterunternehmen des Stifterverbandes

Aktuelles aus den Stiftungen

Alzheimer-Forschung:
In der Sackgasse?

26.03.2024

Fünf Fragen an den Biochemiker Prof. Dr. Christian Behl, der einen Paradigmenwechsel in der Alzheimer-Forschung fordert.

Meistens beginnt es mit kleinen Erinnerungslücken. Wo liegt der Haustürschlüssel? Wie heißt der Sohn der Nachbarin? Irgendwann gehen auch die Namen der engsten Angehörigen verloren, und der bestens bekannte Weg zum Supermarkt wird zur Irrfahrt. Allein in Deutschland werden im Jahr 2050 geschätzt fast drei Millionen Alzheimer-Betroffene leben. Trotz jahrzehntelanger Forschungsanstrengungen können Ärzte den Erkrankten bis heute kaum helfen. Dennoch werden regelmäßig Hoffnungen geweckt und vermeintliche Durchbrüche in der Therapie gefeiert. Christian Behl, Professor für Pathobiochemie an der Universitätsmedizin Mainz, sieht diesen Hype kritisch und fordert einen Paradigmenwechsel, der aus der Sackgasse der aktuellen Alzheimer-Forschung herausführt.

Christian Behl
Prof. Dr. Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Seit den 1990er Jahren wird das Beta-Amyloid-Protein als Hauptauslöser von Alzheimer angesehen. Welche anderen Faktoren, die bislang nicht genügend untersucht wurden, spielen Ihrer Meinung nach bei der Entstehung der Erkrankung eine wichtige Rolle?
Es gibt eine ganze Reihe von pathogenetisch bedeutenden Faktoren, von denen schon sehr früh in der Alzheimer-Forschung berichtet wurde, die aber in der "Amyloid-Euphorie" untergegangen sind. Teilweise sind genau diese Faktoren heute wieder höchst aktuell. Ich denke hier etwa an die besondere Rolle des Lipidtransportproteins APOE, das schon 1993 als sehr wichtiger Risikofaktor beschrieben, aber nicht weiter intensiv genug erforscht wurde. Seit einigen Jahren ist der Einfluss von APOE ein wirkliches "hot topic", und es gibt exzellente neue Daten dazu. Weiterhin wird seit einigen Jahren die Funktion von Immunzellen im Gehirn als pharmakologisches Ziel stark beforscht. Auch die Rolle von Entzündungen und von Immunmediatoren wurde schon sehr früh aufgedeckt, aber ebenfalls nicht adäquat verfolgt. Gleiches gilt für den wichtigen Einfluss von Gefäßveränderungen für Veränderungen in zelleigenen Abbau- und Recycling-Mechanismen, die schon sehr früh im Krankheitsprozess gestört scheinen. Interessanterweise erfahren sehr viele "lost tracks" in den letzten Jahren ein echtes Revival. Und das ist gut so, denn die Alzheimer-Krankheit wird heute mehr und mehr als eine multifaktorielle Erkrankung gesehen und Amyloid Beta ist nur eines von sehr vielen Puzzleteilen.

Und trotzdem steht häufig das Amyloid-Beta-Protein im fachlichen, aber auch im allgemeinen Kontext als alleiniger Auslöser der Alzheimer-Erkrankung im Mittelpunkt. Wie ist es zu einer derart festgefahrenen Hypothese gekommen?
Das hat meiner Meinung nach sehr viele Gründe.  In den Jahren ab 1990 hat der Forschungsfokus auf die Biologie des Amyloid-Beta-Proteins, das als krankheitsspezifische Gehirnablagerung verstanden wurde, eine Vielzahl von hervorragenden Ergebnissen hervorgebracht. Vieles schien auf eine zentrale Rolle des Amyloid-Beta-Proteins als alleinigem Auslöser der Krankheit hinzuweisen. Bereits 1992 wurde dann die "Amyloid-Kaskaden-Hypothese" formuliert. Demnach ist Amyloid Beta der initiale Trigger der Neurodegeneration, eine These, die bei ihren Unterstützern bis heute weiterhin Gültigkeit hat.  Die Alzheimer-Amyloid-Community war sehr aktiv in diesen Jahren, und es war schwer, alternative Ideen einzubringen oder die dominierende These gar anzuzweifeln. Zu oft war "Keep it simple" das Mantra und der lineare und leicht nachvollziehbare Ansatz der Kaskade extrem populär, auch wenn sich früh abzeichnete, dass diese reduktionistische Sicht das Krankheitsgeschehen nicht adäquat abbildet.  Die Einflussfaktoren, die zur anhaltenden Dominanz der Amyloid-Kaskaden-Hypothese führten, sind äußerst vielfältig und nicht nur wissenschaftlicher Natur.

Der Weg von vielversprechenden Ergebnissen der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung ist generell schwer. Gibt es Studien, die einen therapeutischen Effekt zeigen, wenn die Bildung von Amyloid Beta verhindert bzw. abgelagertes Amyloid entfernt wird? 
Nach 30 Jahren Amyloid-Forschung haben wir heute effektive Werkzeuge, das im Gehirn abgelagerte Amyloid-Beta-Protein zu entfernen. Leider nur ergaben sich in klinischen Studien dadurch keine vollumfänglich überzeugenden positiven Effekte auf die kognitiven Leistungen von Betroffenen. Auch interessant ist die Tatsache, dass mindestens 30 Prozent der älteren Menschen Amyloid-Beta-Protein-Ablagerungen im Gehirn aufweisen, ohne unter auffälligen kognitiven Einschränkungen zu leiden. Inzwischen wird sogar eine eher schützende Rolle des Amyloid-Beta-Proteins diskutiert. Dies alles sind Befunde, die die Rolle des Amyloid Beta als initialen Krankheitsauslöser stark anzweifeln lassen.  Wir müssen wohl akzeptieren, dass Alzheimer hoch komplex und pathogenetisch eine sehr individuelle Erkrankung ist und eher ein Syndrom als eine klar definierbare Krankheit ist.

Stand heute ist keine erfolgreiche Therapie oder gar die Prävention dieser neurodegenerativen Erkrankung in Sicht. Was muss passieren, um der Heilung von Alzheimer näherzukommen?
Es gibt durchaus eine ganze Reihe von vielversprechenden Ansätzen der Prävention, mit denen man das Risiko, im Alter an Alzheimer zu erkranken, reduzieren kann. Aber natürlich werden vor allem effektive Therapien sowie Möglichkeiten, den neurodegenerativen Prozess aufzuhalten gebraucht. Also eine echte Intervention zu einem Zeitpunkt, wenn die Krankheit erstmals diagnostiziert ist. Um einer Heilung oder zumindest einer erfolgreichen Behandlung näher zu kommen, braucht es meiner Meinung nach vor allem ein fundamentales Umdenken, übrigens auch was die Definition dieser Hirnerkrankung betrifft: weg vom eingleisigen Blick auf Alzheimer als monokausaler Erkrankung, hin zu einem Verständnis von Alzheimer als ein multikausales Syndrom des Gehirns. Daher muss eine signifikante Veränderung der Alzheimer-Forschung passieren, ein Umdenken und eine Erweiterung im Sinne eines Paradigmenwechsels in den Forschungsansätzen ist nötig. Auch sollten wir nicht kategorisch von der Alzheimer-Krankheit, sondern eher von unterschiedlichen Formen dieser Erkrankung, die dann individuell verschiedene Ursachen haben.

Sie haben im Juli 2023 zu diesem Thema ein Buch mit dem Titel "Alzheimer’s Disease Research: What Has Guided Research So Far and Why It Is High Time for a Paradigm Shift" veröffentlicht. Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Take-Home-Message?
Das Buch ordnet zunächst den Demenzbegriff historisch ein und beschreibt die Entwicklung der Alzheimer-Forschung seit der Einführung des Begriffes "Alzheimer-Krankheit" im Jahr 1910. Es werden die Wege zu den auch heute noch aktuellen Therapieansätzen sowie die vielen grundlagenwissenschaftlichen Hypothesen zur Krankheitsentstehung dargestellt. Natürlich spielen die Amyloid-Kaskaden-Hypothese und ihre Dominanz eine sehr große Rolle im Buch. Darüber hinaus präsentiert das Buch mögliche Ursachen dieser Dominanz sowie auch eine neue, eigene Hypothese der Alzheimer-Krankheit, die die Individualität und individuelle altersrelevante Veränderungen sowie multigenetische Aspekte berücksichtigt. Die zentrale Take-Home-Message wäre mein Plädoyer für ein Öffnen der Alzheimer-Forschung "beyond amyloid", um viele Krankheitsfaktoren gleichzeitig untersuchen zu können und einer personalisierten Medizin für die Therapie von Alzheimer den Weg zu bereiten.

Prof. Dr. Christian Behl ist seit 2010 Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er beschäftigt sich seit 1992 mit den Grundlagen neurodegenerativer Prozesse. Seine Arbeitsgruppe "Biochemie der Neurodegeneration und des Alterns" erforscht Prozesse, die für altersassoziierte neurodegenerative Erkrankungen des Menschen wie Alzheimer-Demenz, Parkinson-Krankheit oder amyotrophe Lateralsklerose relevant sind. Im Juli 2023 veröffentlichte er im Verlag Springer/Nature das Buch "Alzheimer’s Disease Research: What Has Guided Research So Far and Why It Is High Time for a Paradigm Shift".
Mehr Info zum Buch

Die Dr. Eberhard Strebel-Stiftung wurde 2012 von Dr. Eberhard Strebel und seine Frau Ingeborg Strebel durch gemeinschaftliches Testament errichtet. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Alzheimer-Forschung. Trotz intensivster internationaler Bemühungen ist die exakte Ursache der Alzheimer-Krankheit bis heute nicht vollständig geklärt. Die speziell in den letzten drei Jahrzehnten verfolgten Forschungsansätze haben sich zum größten Teil an einer zentralen Hypothese orientiert. Ein durchschlagender therapeutischer Erfolg ist jedoch bisher leider nicht gelungen. Die Dr. Eberhard Strebel-Stiftung möchte die bislang etablierten Forschungsansätze ergänzen, um einen neuen grundlagenwissenschaftlichen Blick auf die bedeutendste demenzielle Erkrankung des Menschen zu erreichen. Unterstützt werden innovative Konzepte, die über den Mainstream in der Neurodegenerationsforschung hinausgehen und die Erweiterung alter sowie die Erarbeitung neuer wissenschaftlicher Denkansätze fördern. Finanziell unterstützt werden Forschungsprojekte sowie Organisation und Durchführung wissenschaftlicher Veranstaltungen, die Interdisziplinarität in den Mittelpunkt stellen und somit einen vielseitigen Blickwinkel erlauben. Aktuell beteiligt sich die Stiftung an dem Projekt Denkfabrik PI2N der Universitätsmedizin Mainz. Die Denkfabrik vertritt das Konzept eines "Expandig the Box"-Ansatzes, mit dem Ziel, mittel- und langfristig neue Wege in der Neurodegenerations- und Alzheimer-Forschung zu gehen.