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Aktuelles aus den Stiftungen

Zwei, denen Chancengerechtigkeit eine Lebensaufgabe ist

12.05.2023

Die Preisträger der Helga und Edzard Reuter-Stiftung in 2023 sind die Gründer des Vereins Chancenwerk e.V. in Castrop-Rauxel, das Geschwisterpaar Şerife Vural-Banik und Murat Vural. Sie werden am 12. Mai 2023 in Berlin mit dem Stiftungspreis in Höhe von 20.000 Euro geehrt.

Im kommenden Jahr besteht der Bildungsverein Chancenwerk 20 Jahre. Viel weiter zurück liegt die Initialzündung zur Gründung dieser Gemeinschaft aktiver Menschen, die Kinder und Jugendliche in deren schulischer und persönlicher Entwicklung unterstützt. Ein Anliegen dabei ist es, Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu bieten.

Şerife Vural-Banik und Murat Vural wissen aus eigenen Erfahrungen, wie wichtig gerade in der Jugend Akzeptanz und Bildung sind. Als Kinder von Gastarbeitern aus der Türkei wurden die Geschwister in Deutschland geboren. Sie wuchsen im Kohlenpott – in Herne – auf, in einem Einwandererstadtteil, über das Murat Vural gesagt hat: "Dort traf ich mich mit türkischen und marokkanischen Kindern zum Spielen. Das Viertel hörte auf, wo die deutschen Schäferhunde bellten." Deutsch wurde dort nicht gesprochen, weder auf der Straße noch zuhause. Ihre Sprachprobleme machten Şerife und Murat zu Außenseitern in der Grundschule. Das stachelte die Geschwister besonders an, mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen mithalten zu können, und motivierte sie fortan, eine erfolgreiche Schullaufbahn zu durchlaufen. Doch nach der Grundschule wurde ihre Schulzeit in Deutschland durch einen Umzug in die Türkei unterbrochen.

Aber auch dort, in Ankara, waren sie die Fremden, die durch ihren anatolischen Dialekt auffielen. Murat kompensierte Zurückweisungen durch Leistung; vor allem in der Mathematik. Er besuchte das Gymnasium, ging auf ein Elite-Internat. Şerife zog mit ihren Eltern bereits nach drei Jahren zurück nach Deutschland. Murat folgte seiner Familie nach dem Abschluss des Internats. Zurück in Deutschland wurde er in der Hauptschule eingestuft und musste sich abermals beweisen. Eine Lehrerin bereitete ihm für Mathematikarbeiten extra schwierige Aufgaben vor, bei denen sich die Pädagogin selbst überfordert fühlte. Murat aber erläuterte der Klasse die Lösungswege.

So kämpften sich Şerife und Murat durch das Bildungssystem, machten Abitur und schlossen ihr Studium mit Bestnoten ab, wurden Ingenieur für Elektrotechnik und Sozialpädagogin. Şerife war es, die im Laufe ihres Studiums feststellen musste, dass auch Kommilitonen mit Migrationshintergrund ähnliche Erlebnisse wie sie während ihrer Schulzeit gemacht hatten und nicht wussten, wie systematisches Lernen funktioniert und wie man sich für seine Interessen einsetzt. Bei Recherchen zu ihrer Diplomarbeit "Die Bildungssituation von Migrantenkindern in Deutschland" wurde sie erneut auf Probleme und Erfahrungen vieler junger Heranwachsender mit Migrationshintergrund aufmerksam. Sie ging zu Murat und sagte: "Bruder, wir müssen was tun!"

Foto: Chancenwerk e.V.
Murat Vural und Şerife Vural-Banik

 
Das war der Anstoß zur Entwicklung eines Bildungsnetzwerkes, für das heute bundesweit in fast 40 Städten mehr als 400 Menschen vornehmlich ehrenamtlich arbeiten – beim Chancenwerk e.V.

Es setzt auf eine besondere Form der Hilfe zur Selbsthilfe: Ältere Schüler und Schülerinnen geben Jüngeren Nachhilfe. Die Älteren erhalten ihrerseits in Intensivkursen Unterstützung in einem Unterrichtsfach ihrer Wahl durch Studierende. Auf diese Weise wird ein Prozess des Lernens auf Augenhöhe in Gang gesetzt, der auch zur Akzeptanzsteigerung untereinander beiträgt. So wird auf allen Ebenen Verantwortungsbewusstsein trainiert und die individuelle Persönlichkeitsentwicklung gefördert.

Dieses Geben- und Nehmen-Konzept nennen die Chancenwerk-Initiatoren "Lernkaskade". Sie soll unabhängig von sprachlichen Voraussetzungen und finanziellen Möglichkeiten Schüler und Schülerinnen aller Schichten ansprechen und dazu beitragen, Schulnoten zu verbessern und damit die Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsabschluss zu erhöhen.

Finanziert wird Chancenwerk e.V. durch staatliche Fördermittel, Zuwendungen und Spenden von Unternehmen oder Einzelpersonen sowie durch die Mitgliedsbeiträge der Schülerfamilien, die für die Qualifizierung ihrer Kinder monatlich 20 Euro beitragen. Dafür erhalten die Kinder zweimal pro Woche eine neunzigminütige Lernförderung durch ältere Schüler und Schülerinnen, denen dafür einmal pro Woche ein kostenfreier Intensivkurs geboten wird, den Studierende abhalten.

Das von Şerife Vural-Banik und Murat Vural entwickelte Konzept hat sich in fast 20 Jahren zu einem Erfolgsmodell der Bildungsarbeit entwickelt. Heute gibt es in nahezu allen Bundesländern Schulen, die mit dem Chancenwerk e.V. kooperieren. Ein Wissenschaftsbeirat begleitet und berät die Arbeit des Vereins; ein Wirtschaftsbeirat wacht über die Verwendung der Mittel. Die mehr als siebzig hauptamtlich Mitarbeitende organisieren unter der Leitung von Murat Vural das gesamte Netzwerk. Sie betreuen auch die fast vierhundert Lernbegleitungen, die sich bei den Nachhilfeangeboten engagieren.

Für sein Engagement war Murat Vural bereits 2010 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen worden. Schon zuvor hatten er und Chancenwerk e.V. viele weitere Auszeichnungen und Würdigungen erhalten. Die aktuelle Ehrung durch die Helga und Edzard Reuter-Stiftung mit dem mit 20.000 Euro dotierten Stiftungspreis wird dem Geschwisterpaar Şerife Vural-Banik und Murat Vural zugleich zuteil.

Die gemeinnützige Helga und Edzard Reuter-Stiftung fördert das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland. Dazu unterstützt sie Personen und Institutionen, die sich engagieren, um die Integration voranzubringen. Die Preisträger werden vom Kuratorium der Stiftung bestimmt, dem neben dem Ehepaar Reuter derzeit folgende Personen angehören: Dr. Susanne Eisenmann, Prof. Barbara John, Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies, Prof. Dr. Stephan Scherer, Dr. Ambros Schindler und Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan. Edzard Reuter, Sohn des legendären Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, war Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzender. Er ist Ehrenbürger Berlins und wirkt in vielen kulturellen und wissenschaftlichen Förderkreisen und Stiftungen mit.