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AVENUE21 – Autonomer Verkehr: Entwicklungen des urbanen Europa

21.06.2017

Ein interdisziplinäres Wissenschaftlerteam an der Technischen Universität Wien untersucht im Rahmen eines neuen Förderprojekts der Daimler und Benz Stiftung, welche Zukunftsszenarien für Städte zu erwarten sind.

In welcher Form wird sich der öffentliche Raum durch autonomes Fahren verändern? Wie wirken bestehende Stadtstrukturen auf die Entwicklung des automatisierten Straßenverkehrs? In welchem Zusammenhang stehen Kultur, Gesellschaft und Mobilität?

Selbstfahrende Autos (Illustration: Daimler und Benz Stiftung)
Illustration: Daimler und Benz Stiftung
Wie sieht unser Leben in der Stadt künftig aus? Können wir heute bereits mitgestalten? AVENUE21 heißt das Förderprojekt der Daimler und Benz Stiftung, in dem Wissenschaftler autonomes Fahren und Stadtentwicklung untersuchen.

Das Forschungsvorhaben "AVENUE21 – Autonomer Verkehr: Entwicklungen des urbanen Europa" ist auf zwei Jahre angelegt und wird mit rund 900.000 Euro gefördert. Dr. Mathias Mitteregger ist der Koordinator und wissenschaftliche Leiter des Projekts.

 
Wie groß schätzen Sie die Veränderungen durch autonomes Fahren für unsere Gesellschaft ein?

Mitteregger: Ich halte sie für richtungsweisend. In den kommenden 50 bis 60 Jahren wird sich so viel verändern, dass wir von einer historischen Dimension sprechen können. Zwar geschehen die Veränderungen nicht augenblicklich, also disruptiv, sondern erfolgen zeitlich gestreckt – langsam und träge. Technologien müssen immer zuerst in den Lebenswelten der Menschen ankommen, bevor sie in den Strukturen der Stadt wirksam werden.

Welche Zielsetzung hat das Forschungsvorhaben AVENUE21?

Mitteregger: Wir betrachten die Wirkungsbeziehung von autonomem Fahren und Stadt, um mögliche Spielräume für die Gestaltung von Städten in der Zukunft aufzuzeigen. Dafür analysieren wir lokale Kontexte und stadtgesellschaftliche Phänomene. Es ist uns wichtig, deutlich zu machen, dass jede Stadt andere Voraussetzungen mitbringt, die es zu berücksichtigen gilt. Autonomes Fahren betrifft dabei nicht nur den Personenverkehr, sondern auch die Gütermobilität. Neue Konsummuster werden entstehen, die sich zum Beispiel auf den stationären Einzelhandel auswirken. Außerdem wird der Faktor Arbeit eine große Rolle spielen. Derzeit ist offen, wie viele Menschen mit der sukzessiven Einführung des autonomen Fahrens eine andere Tätigkeit ausüben werden.

Was verstehen Sie unter dem Kontext einer Stadt?

Mitteregger: In Europa gibt es Städte mit historischen Kernen, die noch durch die Logik des Eselsfuhrwerks geformt wurden. Auch über Jahrhunderte etablierte Infrastrukturen gehören dazu. Hier ist der erste Teil des Kontexts, den wir für relevant halten. Und dann ist zu berücksichtigen, dass Technologien durch das Nutzungsverhalten des Menschen geformt werden. Beide Aspekte haben eine lokale Seite, sind aber zur gleichen Zeit auch Teil globaler Veränderungen.

Können Sie die Entwicklungen im weltweiten Vergleich einordnen?

Mitteregger: In US-amerikanischen Städten beispielsweise liegen ganz andere Rahmenbedingungen vor: Es gibt, grob gesagt, weniger öffentliche Verkehrsmittel und andere Vorstellungen von Mobilität als in Europa – aus meiner Sicht entscheidende Unterschiede, die Auswirkungen auf autonomes Fahren haben werden. Auch ist das Selbstverständnis des Staats bei der Grundversorgung mit Mobilität ein anderes. Das wird sich auf die Einführung neuer Geschäftsmodelle und die Akteure selbst auswirken. Grundsätzlich kann man sagen, dass autonomes Fahren in den Regionen, Städten oder Quartieren mit dynamischer Siedlungsentwicklung, also starkem Wachstum oder Schrumpfen der Bevölkerung, die größten Effekte mit sich bringen wird.

Wie gehen Sie methodisch vor, um solche Szenarien entwickeln zu können?

Mitteregger: In Städten gibt es entscheidende Faktoren mit großem Beharrungsvermögen. Also beschäftigen wir uns einerseits mit den trägen Objekten, etwa Infrastrukturen oder strukturellen Voraussetzungen von Institutionen. Wir analysieren, ob die Gesellschaft für die Zukunft die richtigen Stellhebel besitzen wird oder ob diese neu gedacht werden müssen, um Veränderungsprozesse möglicherweise schon jetzt auf den Weg zu bringen. Außerdem betrachten wir aus interdisziplinärer Perspektive, in welche Richtungen sich die Gesellschaft entwickelt, und untersuchen Effekte durch die Digitalisierung. Diese Basis gleichen wir mit Zielstellungen ab, die in Simulationen oder Leitbildern auftauchen. Zum Beispiel wird davon gesprochen, dass in einigen Quartieren bis zu 40 Prozent der innerstädtischen Fläche zurückgewonnen werden kann, wenn parkende Autos anderorts untergebracht würden oder wenn sie gar nicht erst ruhen.

Welche wissenschaftlichen Disziplinen sind hier vor allem gefragt?

Mitteregger: Architekturtheorie, Raumplanung, Stadtentwicklung, Soziologie und Verkehrssystemplanung sind Teil unseres Kernteams. Wir sind aber auch stark von einem breiteren interdisziplinären Diskurs abhängig. Wir stehen im Austausch mit Informatik und den Ingenieurwissenschaften – bei Letzteren speziell mit der Frage nach den Grenzen neuer technologischer Systeme. Wichtig ist für uns auch der Austausch mit Verwaltung und Steuerung, Mobilitätsanbietern und OEMs. Wir sprechen mit Akteuren und Stakeholdern in internationalen Vorreiterregionen und Referenzstädten, um die Zusammenhänge zu verstehen und schließlich das Potenzial für eine Integration von autonomem Fahren in Stadt und Stadtgesellschaft aufzuzeigen.

Worin liegen die Herausforderungen bei einem so vielfältigen und, was die Anwendung betrifft, einem in der Zukunft liegenden Themenfeld?

Mitteregger: Entscheidendes Problem ist, dass neue Technologien nach ihrer Einführung eine formative Phase durchlaufen, in der vor allem durch ihren Gebrauch entschieden wird, was die Technologie eigentlich ist: Wozu wird eine Technologie im Alltag wirklich genutzt? Das Mobiltelefon beispielsweise war zunächst lange auf das Hören ausgelegt, heute steht das Display, also das Sehen, im Vordergrund. Auch das Senden von SMS, das ursprünglich als Zusatzdienst für Wartungszwecke gedacht war, spielt heute in weiterentwickelten Geschäftsmodellen eine Hauptrolle. Genauso wird sich zeigen, wofür das Auto in Zukunft genutzt und welche abgeleiteten, heute vielleicht nur im Ansatz erkennbaren Zusatzfunktionen wichtig werden. Wir wollen außerdem aufzeigen, dass das autonome Fahrzeug als eine Art Indikator fungieren kann, wie weit Automatisierungsprozesse in unserer Gesellschaft tatsächlich angekommen sind.

Gibt es weitere Grenzen bei Ihrer Forschung?

Mitteregger: Ja, es gibt knifflige Punkte. Zum einen ist es schwierig, den exakten technologischen Forschungsstand des autonomen Fahrens festzustellen, weil involvierte Industrieunternehmen in der Kommunikation eigene Schwerpunkte setzen. Der PR-getriebene mediale Hype ist dabei auch wenig hilfreich. Ein weiteres Problem ist die Abgrenzung der Forschung. Da unser Ansatz ganzheitlich ist, stellt sich stets die Frage, welche Punkte noch betrachtet werden sollen bzw. an welcher Stelle man einen Schlussstrich ziehen muss.

Mit welchen persönlichen Wünschen oder Vorstellungen verbinden Sie das autonome Fahren?

Mitteregger: Ich bin gespannt, welche positiven und negativen Effekte sich für Städte ergeben und welche Lücken sich in den Angeboten urbanen Lebens schließen lassen oder ob neue Ungleichheiten entstehen. Da die Antriebsform autonomer Fahrzeuge derzeit noch ungeklärt ist, könnte es sich in Bezug auf den Klimawandel auch katastrophal auswirken. Wir wissen nicht, was künftig sein wird. Deswegen besteht für mich der Reiz als Wissenschaftler auch darin, ein Bewusstsein und besseres Verständnis für die Thematik zu schaffen. Und abzuklären, welche Optionen zur Verfügung stehen, damit die Gesellschaft für die Zukunft besser gerüstet ist.

Weshalb haben Sie die Leitung dieses Förderprojekts übernommen?

Mitteregger: Ich habe die Chance bekommen, ein offenes, mutiges und risikoreiches Forschungsvorhaben mitzugestalten. Oftmals werden Projektideen eher konservativ und zurückhaltend angegangen. Die Stiftung hat die Relevanz dieser Fragestellungen erkannt und es ermöglicht, frei zu forschen. Durch die begleitende Presse- und Öffentlichkeitsarbeit wird aus meiner Sicht die Notwendigkeit sichtbar gemacht, diese gesellschaftsrelevante Thematik ernst zu nehmen und öffentlich zu diskutieren.

Daimler und Benz Stiftung

Impulse für Wissen – die Daimler und Benz Stiftung verstärkt Prozesse der Wissensgenerierung. Ihr Fokus richtet sich dabei auf die Förderung junger Wissenschaftler, fachübergreifende Kooperationen sowie Forschungsprojekte aus sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Die operativ tätige und gemeinnützige Stiftung zählt zu den großen wissenschaftsfördernden Stiftungen Deutschlands.
Website der Daimler und Benz Stiftung

Pressekontakt

Anke Meis (Foto: Sven Lorenz)

Anke Meis

ist Leiterin des Bereiches "Kommunikation & Marketing" im Deutschen Stiftungszentrum.

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Ansprechpartner bei der Daimler und Benz Stiftung:

Dr. Johannes Schnurr
T 06203 1092-0
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