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Ein Tochterunternehmen des Stifterverbandes

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"Es braucht ein neues Führungsverständnis"

Helene Wolf und Tatu Hey, Geschäftsführerinnen von FAIR SHARE of Women Leaders e.V,, im Gespräch mit Dr. Markus Heuel, Mitglied der Geschäftsleitung des Deutschen Stiftungszentrums, über Wertewandel, Good Leadership und feministische Führungsmodelle, die "alle Ebenen und Personen" angehen.

Heuel: Liebe Frau Wolf, liebe Frau Hey, das Thema Führungskultur und der Dialog über die Werte, die damit verbunden sind, haben durch die Agenda 2030 der Vereinten Nationen eine ganz neue Dynamik bekommen. Sehen Sie uns im Moment in einer beschleunigten Phase des Wertewandels und können Sie den genauer beschreiben?

Wolf: Ich nehme wahr, dass insgesamt das Bewusstsein wächst, wie wichtig Führungs- und Organisationskultur für die Lösung der globalen Herausforderungen rund um die Agenda 2030 ist. Das zeigt sich zum Beispiel in dem gerade entstehenden Konzept der Inner Development Goals oder auch in der Wertschätzung von Führungspersonen wie Jacinda Ardern und Mia Amor Mottley, der ersten Premierministerin von Barbados.

Hey: Mehr und mehr ändert sich die Norm, dass alles in Silos und getrennt voneinander gemacht oder gedacht werden kann, und das ist super. Das Leben auf unserer Erde ist geprägt von Komplexität und diese muss auch in Führungskultur, auf Englisch würde man sagen embraced (deutsch: angenommen) werden. Das wollen nicht alle Führungspersonen, sondern einige suggerieren weiterhin, dass es einfache Antworten auf komplexe Herausforderungen gibt. Das Ergebnis sind dann manchmal sehr kurzfristige Lösungen. Ein Beispiel: Um Teams diverser zu machen, werden Positionen neu besetzt. Statt jedoch diskriminierende Strukturen zu hinterfragen und zu verändern, werden diese weiterhin am Leben gehalten.

Foto: privat
Helene Wolf (li) und Tatu Hey

 
Heuel: Warum ist für Sie Good Leadership ein Schlüsselfaktor für Nachhaltigkeit?

Hey: Leider hat sich der zivilgesellschaftliche Sektor Führung sehr stark aus dem derzeitig sehr ungerechten Wirtschaftssektor abgeguckt. Wir sehen, dass der Fokus auf Ergebnisse und weniger auf gesellschaftliche Wirkung liegt oder dass nicht über Macht in Organisationen gesprochen wird. Klimagerechtigkeit, welche weit über Nachhaltigkeit hinaus geht, braucht andere Arten der Führung, die Mensch und Natur ins Zentrum stellt. Dies gilt auch für Organisationen, die sich nicht mit Umwelt und Klimathemen beschäftigen.

Wolf: Wir können die besten Ideen, Technologien und Projekte entwickeln – wenn wir nicht auch das Wie verändern, wird die Wirkung immer oberflächlich bleiben und im schlimmsten Fall koloniale, rassistische und sexistische Strukturen weiter am Leben halten. Deshalb müssen wir neue Wege finden, vielfältige Perspektiven einzubeziehen und gerechtere Partnerschaften zu entwickeln, zum Beispiel zwischen dem globalen Norden und Süden. Dazu braucht es ein neues Führungsverständnis, welches Verantwortung und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt.
 

Heuel: Sie sind Geschäftsführerinnen der Organisation FAIR SHARE of Women Leaders und setzen sich für ein feministisches Führungsmodell ein. Was ist für Sie Feminismus im Jahr 2023 und was genau ist feministische Führung? Welche Werte werden darunter subsumiert?

Hey: Wahrscheinlich hat jede Person ein leicht unterschiedliches Verständnis von Feminismus für sich selbst. Ich glaube, es wird nie den einen Feminismus geben und das ist auch gut so. Für uns ist wichtig, dass Feminismus eine Veränderung von sozialen Machtstrukturen unterstützt, damit alle Menschen ein Leben ohne Unterdrückung, Marginalisierung oder Ausbeutung führen können.

Wolf: Im Kontext von Organisationen kann es dann wie folgt aussehen: Entscheidende Elemente sind für uns das Hinterfragen und das Umverteilen von Macht – weg von der einen Person am Kopf der Pyramide hin zu geteilter Verantwortung innerhalb einer Organisation. Dafür braucht es viel Transparenz und Wertschätzung gegenüber verschiedenen Perspektiven und Bedarfen. Die Rolle einer Führungsperson ist darin oftmals eher moderierend. Auch ich lerne die ganze Zeit dazu, wie ich feministische Führung und meine Rolle darin sehe und leben will.

FAIR SHARE of Women Leaders e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der in Deutschland registriert ist und weltweit arbeitet. 2019 gegründet, verfolgt der Verein das Ziel, neue Formen von Organisationsführung zu erproben und vorzustellen, die feministische Werte und Prinzipien widerspiegeln und einige der Fallstricke von Machtungleichgewicht, Hierarchie und Bürokratie von "traditioneller Organisationsführung" überwinden. FAIR SHARE möchte mit interessierten Organisationen an möglichen Ansätzen und Strategien für mehr Geschlechtergerechtigkeit arbeiten, Best-Practice-Beispiele sammeln und so gemeinsam Lösungen entwickeln, sodass bis spätestens 2030 ein FAIR SHARE von Frauen und Männern innerhalb der deutschen Zivilgesellschaft erreicht ist.

 
Heuel: Feministische Führung geht also auch Männer an, sehe ich das richtig?

Wolf/Hey: Auf jeden Fall! Feministische Führung schließt alle Ebenen und Personen ein. Da geht es nicht um das Geschlecht der Person, die sich auf diese Reise begeben möchte. Wichtig für uns ist immer die Klarstellung, dass feministische Führung nicht gleich zu setzen ist mit weiblicher Führung. Das Narrativ von weiblicher Führung reproduziert das Bild, dass Frauen von "Natur" aus gewisse Charaktereigenschaften besitzen. Feministische Führung beschreibt eher eine Haltung, die jede Person einnehmen kann.
 

Heuel: Sie haben als Organisation selbst gerade den Schritt gemacht, die Führungsrolle zu teilen. Können Sie uns den Prozess dahin ein wenig näher beschreiben?

Wolf: Wir sind noch eine junge Organisation und ich als Gründerin wusste schon lange, dass ich nicht langfristig die alleinige Verantwortung tragen möchte. Daher habe ich meinen Wunsch, die Rolle zu teilen, ins Team gebracht. Derzeit diskutieren wir im Team, welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten bei den beiden Co-Geschäftsführerinnen liegen sollen und wie das Team in Entscheidungen eingebunden werden möchte – das ist auch für mich neu und spannend.

Hey: Das ist jetzt meine erste "offizielle" Führungsrolle, die ich einnehme und ich freue mich besonders, dass ich dabei nicht allein bin. Ich bin ganz stark davon überzeugt, dass wir möglichst im Kollektiv Veränderung schaffen. Ein zentrales Prinzip von Feministischer Führung ist die Machtteilung – nicht nur auf Führungsebene –, daher ist dies ein wichtiger Schritt für die gesamte Organisation, unsere Werte auch zu leben. Wie bei vielen anderen Prozessen hatten wir aber keinen fertigen Plan, wie der Prozess ablaufen sollte. Wir lassen uns von Feedback und Reflexionen im Team, von kritischen Freundinnen und Freunden und Erfahrungsaustausch leiten.

Feministische Führung ist nicht gleich zu setzen mit weiblicher Führung. Feministische Führung beschreibt eher eine Haltung, die jede Person einnehmen kann.

Helene Wolf und Tatu Hey

Geschäftsführerinnen von FAIR SHARE of Women Leaders e.V.

 
Heuel: Was ändert sich in Organisationen, die feministisch geführt werden? Können Sie hier bitte ganz praktische Beispiele nennen?

Hey: Auch hier wird es nicht die eine Antwort geben, da jede Organisation unterschiedlich ist. Wenn ich hier noch für meine Zeit als Projektmanagerin sprechen kann, würde ich sagen, dass für mich ein wichtiges Erlebnis bei FAIR SHARE war, dass ich als mitarbeitende Person ernst genommen wurde. Ich konnte meine Bedenken, Kritik und Erfahrungen einbringen und diese wurden wertgeschätzt. Dies wurde deutlich unter anderem in Teamgesprächen, bei denen wir über interne Prozesse gemeinsam reflektiert haben.

Wolf: Aus meiner Perspektive als langjährige Führungsperson ändert sich vor allem auch meine Rolle: Ich nehme nicht in Anspruch, alles zu wissen und immer eine Antwort oder Lösung zu haben. Diese Auseinandersetzung mit den Grenzen der eigenen Perspektive ist herausfordernd, aber oftmals auch sehr befreiend und eröffnet Gesprächs- und Handlungsräume für gemeinsames Nachdenken und Entscheiden.
 

Heuel: Sie setzen sich für die gerechte Beteiligung von Frauen bis 2030 an Führungspositionen im Dritten Sektor ein. Derzeit machen Frauen 70 Prozent der Beschäftigten aus, sind aber nur zu 40 Prozent in leitender Funktion tätig. Warum glauben Sie tut sich dieser sonst so innovative Sektor noch etwas schwer damit? Welche Widerstände nehmen Sie wahr?

Wolf/Hey: Der Sektor steht vor den gleichen Herausforderungen wie andere Teile der Gesellschaft: Geschlechterstereotype, homogene und oftmals männerdominierte Entscheidungsstrukturen und Ängste vor Veränderung. Die Umverteilung von Macht ist immer schwierig und heißt, dass lang gelernte Einstellungen, wer und was eine Führungsperson ist und wie sie sich verhalten müsste, komplett neu gedacht werden müssen. Und Personen, die diese Rollen bisher für sich fast selbstverständlich in Anspruch genommen haben, müssen eine neue Rolle für sich finden. Das stößt natürlich auf viele Widerstände.

Foto: Ceren Saner

 
Heuel: Spielt es für Sie eine Rolle, ob Organisationen ihr Führungsmodell wegen des Drucks von außen und aus Imagegründen oder aus voller Überzeugung erneuern? Führt am Ende beides zum Erfolg?

Hey: Ich glaube, etwas nur aus Imagegründen zu verändern, wird schnell in der Belegschaft gespürt und zu viel Unmut führen. Der Prozess des feministischen Führens ist natürlich sehr bereichernd und gleichzeitig unangenehm. Es geht unter anderem darum, sich seiner Privilegien bewusst zu sein und vieles, was wir als "normal" kennen, zu verlernen, und das ist nun mal ungemütlich. Wenn dieser Wille nicht da ist, sich solchen Reflektionen zu stellen, dann wird Veränderung sehr schwer sein. Auch wenn es ein langer und herausfordernder Prozess ist, lohnt dieser auf jeden Fall.

Wolf: Ich denke, der Druck von außen und aus der Mitarbeiter: innenschaft ist oftmals der Startpunkt. Wenn die Veränderungen aber nicht in die Tiefe gehen, wird der Druck eher zunehmen und das Risko von öffentlichen "Skandalen" steigt, wenn nach außen kommunizierte Werte nicht innerhalb einer Organisation spürbar umgesetzt werden.
 

Heuel: Kann der Sektor, können insbesondere Stiftungen eine Vorreiterrolle für die gesamte Gesellschaft einnehmen?

Wolf: Das können und sollten sie! Welcher Sektor könnte glaubwürdiger Werte wie Teilhabe, Chancengerechtigkeit und Repräsentation vertreten und leben. Der Sektor hat hier eine unglaubliche Chance, voranzugehen und Vorbild zu sein.
 

Heuel: Sie verstehen FAIR SHARE als internationales Netzwerk. Welche thematischen Unterschiede nehmen Sie international wahr? Gibt es in Deutschland besondere Stärken oder Schwächen beim Thema Leadership?

Wolf: International werden insbesondere die Themen Vielfalt und Repräsentation im Zusammenhang mit Führungs- und Organisationskultur schon wesentlich länger diskutiert als in Deutschland. Wie wir aus unserer internationalen Arbeit und auch Datenerhebungen wissen, hat sich zum Beispiel bei internationalen NGOs in den vergangenen Jahren mehr bewegt: Hier sind bereits die Hälfte von Führungspositionen mit Frauen besetzt und die Diskussion fokussiert sich mittlerweile auf den Abbau von Mehrfachdiskriminierung, wie sie zum Beispiel oftmals Frauen mit Rassismuserfahrung trifft. Sie sind auch international unterrepräsentiert, aber immerhin wird dies als Problem erkannt. Hier hat Deutschland einiges aufzuholen.

Hey: Aus Gesprächen mit vielen Partner:innen wissen wir, dass viele Führungspersonen in Deutschland gerne mehr Veränderungen in ihren Organisationen ermöglichen wollen, es jedoch unter anderem auch durch starre, bürokratische Förderstrukturen erschwert wird. Wenn Stiftungen mit ihrer sprichwörtlichen Kapitalmacht hier neue Wege gehen würden, könnte dies den Wandel hin zu neuen Führungs- und Organisationsmodellen erheblich beschleunigen.
 

Heuel: Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch!
 

Das Gespräch führte Dr. Markus Heuel, Herausgeber von Stiftung&Sponsoring, Mitglied der Geschäftsleitung des Deutschen Stiftungszentrums und Herausgeber des Magazins Stiftung&Sponsoring. Das Interview erschien zuerst in Stiftung&Sponsoring, Ausgabe 2/2023.

ZU DEN PERSONEN

Helene Wolf ist Mitbegründerin und Co-Geschäftsführerin von FAIR SHARE of Women Leaders e. V. und baut den Verein seit seiner Gründung 2019 auf. Davor war sie acht Jahre Stellvertretende Geschäftsführerin des International Civil Society Centre, einer Plattform für internationale NGOs, wodurch sie mit den Herausforderungen international operierender Organisationen vertraut ist. Von Anfang an hat sie sich zusammen mit dem kleinen Team mit feministischer Führungspraxis und deren Umsetzung bei FAIR SHARE beschäftigt und als Teil des Action Circle die Arbeit dazu maßgeblich mitgestaltet. Sie ist Teil des Responsible Leaders-Netzwerkes der BMW Foundation Herbert Quandt.

Tatu Hey ist seit Januar 2023 Co-Geschäftsführerin von FAIR SHARE of Women Leaders e.V. und unter anderem verantwortlich für das Women Leadership Lab, ein innovatives Leadership-Programm für Frauen im zivilgesellschaftlichen Sektor basierend auf Feminist Leadership-Ansätzen. Gerade baut sie den Bereich zur Feministischen Internationalen Zusammenarbeit aus. Als Mitglied des Black Earth Climate Justice Kollektives setzt sie zahlreiche Workshops zu dem Thema "Dekoloniale Perspektiven auf die Klimakrise" um. Sie hat die Kurzstudie "Der Elefant im Raum – Umweltrassismus in Deutschland, Studien, Leerstellen und ihre Relevanz für Klima- und Umweltgerechtigkeit" gemeinsam mit Imeh Ituen veröffentlicht.

Als führende Grantmaking-Zeitschrift im deutschsprachigen Raum widmet sich Stiftung&Sponsoring dem gesellschaftlich wichtigen Feld gemeinnütziger Aktivitäten aus der Sicht der Geber, der Stifter und Spender sowie der Sponsoren: mit viel Praxisorientierung und hoher fachlicher Kompetenz, national und international. Wichtige rechtliche und steuerliche Problemstellungen werden ebenso aufgegriffen wie praktische Fragen zur Führung, Organisation, Fördertätigkeit, Vermögensverwaltung und Kommunikationsarbeit von Stiftungen. Interviews mit angesehenen Persönlichkeiten, Porträts beispielhafter Stiftungs- und Sponsoringaktivitäten, Informationen über Fortbildungsmöglichkeiten sowie ein Dokumentationsteil ergänzen die fachlichen Beiträge.

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